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Die Geschichte des Guide Michelin in Deutschland

1964–1969: Neustart im Wirtschaftswunderland

Im Frühjahr 1964 startet für Michelin zwischen Flensburg und Berchtesgaden eine neue Zeitrechnung: Nach 51 Jahren Pause kommt wieder ein MICHELIN-Führer Deutschland in den Handel. In der Folgezeit wird der Band die Entwicklung Deutschlands vom kulinarischen Außenseiter hin zu einem führenden Gourmet-Land begleiten.

In der langen Zwangspause hat sich der MICHELIN-Führer vom Ratgeber für Autofahrer zum renommierten Hotel- und Gastronomieführer gewandelt, international berühmt vor allem wegen seiner Sterne für eine ausgezeichnete Küche. Die heute 23 Länder abdeckende Reihe umfasst Mitte der 1960er-Jahre allerdings gerade einmal vier Bände: Frankreich, die Benelux-Länder, Italien und Spanien.

Deutschland ist seit 1949 in zwei Staaten geteilt. Die Bundesrepublik im Westen ist geprägt vom dynamischen Aufschwung der Wirtschaftswunderjahre und neben Frankreich eine treibende Kraft der europäischen Einigung. Mit steigenden Löhnen und Vollbeschäftigung rücken zusehends Freizeit, Reisen und Konsum in den Blickpunkt – ausgezeichnete Rahmenbedingungen auch für die Gastronomie. Die Deutsche Demokratische Republik ist hinter der Mauer fast unerreichbar. Für den MICHELIN-Führer bleibt der Weg in den Osten Deutschlands daher bis zur Wiedervereinigung 1990 versperrt. Bis dahin beschränkt sich die Ausgabe auf die Bundesrepublik und Westberlin. ...

Start mit 5.500 Adressen aller Preisklassen

Der MICHELIN-Führer Deutschland 1964 ist vom Umfang ähnlich ausgelegt wie die neueren Ausgaben. Er umfasst rund 5.500 Adressen, Sterne gibt es noch keine. Zum Vergleich: Die Ausgabe 2009 führt auf 1.512 Seiten 4.481 Hotels und 1.519 Restaurants auf, darunter neun 3-Sterne-Häuser, 18 2-Sterne-Häuser und 189 1-Stern-Adressen. Damals wie heute unverändert: Bei den empfohlenen Restaurants und Hotels handelt es sich um Betriebe aller Preisklassen – vom einfachen, gut geführten Haus bis zum Luxushotel oder Feinschmeckerlokal.

Arbeit nach dem Rotationsprinzip: die Michelin Inspektoren

Nach dem bewährten Vorbild des MICHELIN-Führers Frankreich sind für die Deutschland-Ausgabe von Beginn an ausschließlich fest angestellte und anonym arbeitende Michelin Inspektoren unterwegs. Nach einer mehrmonatigen Ausbildung in Frankreich oder Belgien, in deren Verlauf sie erfahrene Inspektoren auf ihren Touren begleiten, gehen sie in der Bundesrepublik und Westberlin auf Reise. Dort bekommt jeder Michelin Inspektor ein Gebiet zugewiesen. Um zu verhindern, dass er als Tester erkannt wird, wechselt er nach dem Rotationsprinzip in eine andere Region. Frühestens nach zehn Jahren kehrt er wieder ins Ausgangsgebiet zurück. Das Prinzip gilt beim MICHELIN-Führer bis heute.

Pro Jahr einmal rund um die Erde in Käfer und Kadett

Das Pensum, das die Michelin Tester zu bewältigen haben, ist von Anfang an enorm: „Wir waren immer 14 Tage am Stück auf Achse, auch am Wochenende“, erinnert sich Alfred Groß1 , ein Michelin Inspektor der ersten Stunde. In 35 Jahren bei Michelin legte er rund 1,4 Millionen Dienstkilometer zurück. Das entspricht rund 40.000 Kilometern pro Jahr oder einer kompletten Erdumrundung. Der heutige Ruheständler blickt außerdem auf rund 7.000 Testessen für den MICHELIN-Führer zurück. „Unsere Arbeitstage waren lang und begannen damals stets mit einem Gang zur Post, wo wir die Berichte vom Vorabend wegschickten und nachschauten, ob eine Nachricht von der Zentrale in Karlsruhe für uns vorlag“, so Michelin Veteran Groß weiter. „Die Touren mussten deshalb sorgfältig geplant werden und die Übernachtungsadressen bei der Redaktion bekannt sein.“

Michelin Inspektor der ersten Stunde erinnert sich

Hintergrund für diese Prozedur: Telefone in den Hotelzimmern sind damals selbst in gehobenen Häusern kein Standard, Mobiltelefone und Navigationssysteme pure Science-Fiction. „Das Zurechtfinden in fremden Städten war eine Kunst. Als beliebter Orientierungspunkt diente der Kirchturm“, berichtet Groß. Das im Vergleich zu heute noch recht dünne Autobahnnetz erschwert die Arbeit der Michelin Tester zusätzlich. „Von Karlsruhe nach Nürnberg war man einen Tag unterwegs.“ Auch die Dienstwagen bieten nur Minimalkomfort: Die Inspektoren haben die Wahl zwischen VW Käfer und Opel Kadett.

Hawaii-Garnitur und Dosen-Ravioli statt frischer Produkte

Zweimal am Tag, mittags und abends, stehen Restaurantbesuche auf dem Programm. Was die Inspektoren dabei serviert bekommen, unterscheidet sich erheblich von moderner Restaurantküche. „Bis weit in die 1970er-Jahre gab es in Deutschland kaum Verständnis für verfeinerte Esskultur. Ein Großteil der Deutschen stand raffinierten Tafelfreuden sogar eher misstrauisch gegenüber. Als typisch für gehobene Mahlzeiten galten die Hawaii-Garnitur mit Ananas oder Chateaubriand mit Sauce béarnaise. Statt frischer Produkte wurden vielerorts Ravioli aus der Dose aufgetischt“, blickt Groß zurück. „Masse ging eindeutig über Klasse“, so sein Urteil über die Ära von Kunst-Würze, zerkochtem Gemüse und Mehlschwitzen. Für das gängige kulinarische Angebot finden die Inspektoren schnell ein griffiges Kürzel: „Wir sprachen immer vom RKS-Angebot für Rumpsteak, Kotelett, Schnitzel“, erzählt Groß. Der MICHELINFührer Deutschland 1964 drückt es diplomatisch aus: „Die deutsche Küche zeichnet sich weniger durch raffinierte Zubereitung der Gerichte als durch eine gepflegte und reichhaltige Zusammenstellung der Speisen aus.“

Kulinarischer Vorsprung im Südwesten

Ein Grund für die kulinarische Rückständigkeit Deutschlands: „Viele Produkte, die für eine Spitzenküche unerlässlich sind, waren im Großhandel kaum erhältlich. Das mussten nicht zwangsläufig Luxusprodukte sein, sondern frische, qualitativ hochwertige Zutaten, die eine größere Bandbreite an Geschmäcken ermöglichten“, erinnert sich der Ex-Michelin Inspektor Groß. „Eine Ausnahme war Süddeutschland. Die Küchenchefs hatten es dort nicht allzu weit zum Großmarkt in Straßburg“, so der gelernte Koch weiter. 

Befördert durch die Nähe zum Elsass, bietet speziell der Oberrhein in den 1960er-Jahren ideale Voraussetzungen für eine hochwertige regionale Küche. Hiervon zeugen auch große Häuser, die schon damals gastronomische Legenden sind. Etwa „Katzenbergers Adler“ in Rastatt und der „Erbprinz“ in Ettlingen, in dem auch Groß nach Stationen im Schwarzwald und der Schweiz einige Jahre arbeitet, ehe er zum MICHELIN-Führer wechselt. Bis heute ist der Südwesten die Region Deutschlands mit der höchsten Dichte an Michelin Sternen und Bib Gourmands, dem Prädikat für eine sorgfältige Küchenleistung zu günstigen Preisen. 

Zwei sternlose Anfangsjahre

Dass sich 1964 im MICHELIN-Führer Deutschland noch keine Sterne finden, hängt indes nicht mit der unzureichenden Küchenleistung selbst jener Spitzenhäuser zusammen. Der Grund ist ein anderer: Bis heute geht der Vergabe der begehrten Auszeichnung ein längerer Beobachtungs- und Beratungsprozess mit diversen anonymen Testessen bei jedem potenziellen Kandidaten voraus. Die ersten beiden Ausgaben kommen deshalb für Sterne noch nicht infrage. „Wir hoffen jedoch, in den kommenden Jahren auch in Deutschland Restaurants mit lobenswerter Küche empfehlen zu können“, heißt es hierzu im Vorwort des MICHELIN-Führers Deutschland 1964. 

1966: die ersten 66 Sterne in Deutschland

Bereits zwei Jahre später ist es so weit: Insgesamt 66 Häuser erhalten den ersten Stern. Bis 1969 steigt die Zahl der deutschen 1-Stern-Adressen auf 186. Seit 1966 trägt ein einziges Haus in jeder Ausgabe des MICHELIN-Führers einen Stern und ist damit der  beständige Klassiker in der Deutschland-Ausgabe schlechthin: das Restaurant im Hotel „Adler“ in der Gemeinde Häusern im Südschwarzwald. Wie ein Zeitdokument und gleichzeitig eine Verbeugung Richtung Frankreich lesen sich die Namen der 1966 empfohlenen Gerichte der deutschen Spitzenhäuser: „Junge Ente Drei Musketiere“, „Poulardenbrust Pompadour“, „Kalbsleber St. Tropez“ oder „Froschschenkel Café de Paris“. Aber auch „Schnitzel nach Art des Hauses“, „Matrosengericht“ und „Mastkalbsteak Fährhaus nach Norden“ finden sich auf den Speisekarten der Sterne-Gastronomie.

Schwerpunkt auf Hotels

Auch wenn der MICHELIN-Führer vor allem für seine Sterne bekannt ist: Damals wie heute machen Hotels und Pensionen den Löwenanteil der empfohlenen Adressen aus. Das Vorwort der Ausgabe 1964 spricht deshalb ausdrücklich vom „Hotelführer Deutschland“. Das Spektrum der empfohlenen Häuser reicht dabei vom Luxushotel ersten Ranges (l – fünf Häuser) bis zum einfachen, aber ordentlichen Gasthof (û – Weinglas und Gabel), eine Kategorie, die im Zuge des gestiegenen Komfortniveaus inzwischen aufgegeben wurde. Die großen Ketten, die heute besonders in den Großstädten die Hotellerie dominieren, sind damals in Deutschland mit Ausnahme von Metropolen wie Westberlin und Frankfurt am Main noch nicht vertreten.

Bescheidener Durchschnittskomfort

Wie durchschnittlicher Hotelkomfort vor über 40 Jahren aussieht, dokumentieren die Piktogramme der damaligen MICHELINFührer. Die einprägsamen Symbole weisen auf heute selbstverständliche Ausstattungsmerkmale wie eigene Dusche, Badewanne oder Toilette hin und informieren die Leser, ob die Zimmer über Zentralheizung verfügen. „Keine Selbstverständlichkeit in den Sechzigern“, erinnert sich der frühere Michelin Inspektor Groß: „Manchmal musste man sogar Zuschlag für die Heizung zahlen.  Wenn die Räume nicht vorgeheizt waren, kam man dann amnächsten Morgen mit triefender Nase zum Frühstück. Auch war es ganz normal, Hotelzimmer ohne Nasszelle oder nur mit kaltem Wasser zu erwähnen.“ Der MICHELIN-Führer hat hierfür sogar eigene Symbole. TV-Geräte auf dem Zimmer sind lange Zeit ebenfalls Mangelware, sodass speziell bei Reisen in die Provinz abends schnell Langeweile aufkommt. „Ich schleppte deshalb im Kofferraum in einer Extra Reisetasche immer einen eigenen Fernseher mit Zimmerantenne mit mir herum“, berichtet Groß vom Inspektoren-Alltag vor mehr als 40 Jahren. 

Rund 800 offizielle Besuche pro Jahr

Damals wie heute gehören neben den Testessen auch offizielle Besuche zur Arbeit der Michelin Inspektoren. Dabei geben sie sich als Michelin Mitarbeiter zu erkennen und nehmen zusammen mit einem Vertreter der jeweiligen Geschäftsleitung die Einrichtungen eines Gastronomie- oder Hotelbetriebs in Augenschein. Diese Inspektionen sind immer unangemeldet, oft im Anschluss an einen anonymen Restauranttest oder eine Übernachtung, jedoch immer erst, nachdem der Inspektor die Rechnung beglichen hat.

Rund 800 solcher Besuche absolvierte Groß pro Jahr. „Dass ich deshalb später in einem Hotel oder Restaurant wiedererkannt worden wäre, ist mir in meiner ganzen Zeit als Inspektor nie passiert. Und selbst wenn man mich als Tester entdeckt hätte: Schlimmstenfalls hätte der Küchenchef ein paar Zutaten mehr auf meinem Teller angerichtet, was aber letztlich dem Charakter und der Ausgewogenheit des Gerichts schaden kann.“ Von einem seiner Kollegen allerdings berichtet der Tester im Ruhestand eine Anekdote: Nach der Zurückstufung seines Lokals sei der Kollege vom erbosten Wirt mit gezücktem Schlachtermesser vom Hof gejagt worden. „Das war aber wirklich eine Ausnahme“, schmunzelt Groß, „und ist nicht wieder passiert.“

Viel Überzeugungsarbeit bei den Gastronomen

Ein weitaus realeres Problem ist für Groß und seine Kollegen in den Anfangsjahren die noch mangelnde Bekanntheit des MICHELINFührers rechts des Rheins. Anders als in Frankreich ist der Guide in Deutschland bis weit in die 1970er-Jahre selbst unter Gastronomen kaum ein Begriff. Die Folge: „Viele Chefs wollten partout nicht glauben, dass ein Reifenhersteller auch einen Hotel- und Gastronomieführer herausbringt, und waren deshalb an einem gemeinsamen Rundgang durch ihr Haus nicht sonderlich interessiert. Wir mussten regelrecht Überzeugungsarbeit leisten und uns unseren Ruf erst mühsam erarbeiten“, berichtet Groß. 

Erst in den späten 1980er-Jahren etabliert sich der MICHELINFührer auch in Deutschland als Nummer eins unter den Hotel- und Gastronomieführern. Zu diesem Zeitpunkt beginnt eine kleine Revolution, die die kulinarische Landschaft in Deutschland verändern wird.

Die ersten 66 Sternerestaurants in Deutschland

 

Im Jahr 1966 zeichnete Michelin die ersten Restaurants in Deutschland mit einem Stern aus. Insgesamt 66 Häuser erhielten das begehrte Prädikat

Ort

Haus

Bundesland

Aachen

Haus Cockerill

NW

Aachen/Kohlscheid

Casino Laurweg

NW

Baden-Baden

Stahlbad

BW

Badenweiler

Park-Hotel

BW

Berlin

Aben

B

Berlin

Börsenstuben

B

Berlin

Maître

B

Berlin

Ritz

B

Biebelried

Leicht

BY

Bochum

Parkhotel Haus Bochum

NW

Bonn/Bad Godesberg

Weinhaus St. Maternus

NW

Bremen

Borgfelder Landhaus

HB

Darmstadt

Waldhotel Hecht

HE

Düsseldorf

Bateau Ivre

NW

Düsseldorf

Breidenbacher Hof

NW

Düsseldorf

M + F (Müllers und Fest) und KD

NW

Emden

Goldener Adler

NI

Flensburg

Gnomenkeller

SH

Flensburg

Piet Henningsen

SH

Frankfurt am Main

Brückenkeller

HE

Frankfurt am Main

Da Bruno

HE

Freiburg im Breisgau

Weinstuben zum Falken

BW

Glottertal

Zum Adler

BW

Hamburg

Berlin

HH

Hamburg

Mühlenkamper Fährhaus

HH

Hamburg

Peter Lembcke

HH

Hamburg

Vier Jahreszeiten – Rest. Haerlin

HH

Hannover

Wichmann

NI

Harzburg, Bad

Bodes Hotel

NI

Harzburg, Bad

Braunschweiger Hof

NI

Häusern

Adler

BW

Heimbach

Krone

NW

Herrenalb, Bad

Mönchs Posthotel – Rest. Klosterschänke

BW

Hildesheim

Rose

NI

Hinterzarten

Park-Hotel Adler

BW

Hinterzarten 

Kaiser's Tannenwirtshus

BW

Karlshafen

Zum Schwan

HE

Kiel

Ratskeller

SH

Köln

Bremer

NW

Köln

Excelsior Hotel Ernst

NW

Köln

Hanse-Stube

NW

Köln

Im Walfisch

NW

Köln

Ristorante Grand'Italia

NW

Köln

Weinhaus Wiesel

NW

Köln

Weinhaus Wolff

NW

Konstanz

Casino-Restaurant

BW

Lindau im Bodensee

Spielbank-Restaurant

BY

Lörrach

Binoth am Markt

BW

Mosbach

Krone

BW

München

Continental

BY

München

Vier Jahreszeiten – Walterspiel

BY

Nürnberg

Goldenes Posthorn

BY

Osnabrück

Deele mit Kutscherstube

NI

Pyrmont, Bad

Güldener Pfennig

NI

Rastatt

Katzenbergers Adler

BW

Rüdesheim/Assmannshausen

Krone

HE

Saulgau

Kleber-Post

BW

Stade

Klubhaus-Hotel/Stader Klubhaus

NI

Steben, Bad

Staatliches Kurhotel und Kurhaus

BY

Steinbach

Winzerstube Bocksbeutel

BW

Stuttgart

Alte Post

BW

Sylt/Westerland

Altfriesische Weinstube

SH

Sylt/Westerland

Stadt Hamburg

SH

Tettnang

Rad

BW

Wiesbaden

Weinrestaurant Mutter Engel

HE

Wiesmoor

Blauer Fasan

NI

1970–1990: Boom der Sterne

Der Hotel- und Gastronomieführer begleitet den Aufstieg Deutschlands zum Gourmet-Land 

Zwischen 1970 und 1990 gelingt der deutschen Gastronomie der internationale Durchbruch. Bereits 1970 listet der MICHELINFührer 189 Restaurants mit einem Stern. Noch höhere Wertungen erreicht in Deutschland allerdings kein Haus. Zehn Jahre später wird das erste Restaurant in Deutschland mit drei Sternen ausgezeichnet, zwei Jahre später folgen zwei weitere 3-SterneHäuser. 1990 empfehlen die Michelin Inspektoren drei Restaurants mit drei Sternen, 14 Adressen mit zwei Sternen und 187 Betriebe mit einem Stern. Damit hat sich Deutschland als Gourmet-Ziel von Rang etabliert. Parallel dazu entwickelt sich der MICHELIN-Führer zum führenden Hotel- und Gastronomieratgeber in Deutschland. 

Kulinarischer Aufschwung mit der „Nouvelle Cuisine“

Für Alfred Groß (Name geändert), Michelin Inspektor im Ruhestand, ist dieser Aufschwung zu internationaler Klasse vor allem mit einem Namen verbunden: Eckart Witzigmann. Der gebürtige Österreicher ist Protagonist der kulinarischen Revolution, die in den 1970er-Jahren unter dem Namen „Nouvelle Cuisine“ von Frankreich aus die Spitzengastronomie erobert. 1971 wird Witzigmann Chefkoch im neu eröffneten Münchner Feinschmecker-Tempel „Tantris“. Der Schüler der 3-Sterne-Köche Paul Bocuse (Lyon) und Paul Haeberlin (Illhaeusern/Elsass) sorgt im Pop-Art-Ambiente des Hauses mit seiner strikt französisch orientierten Küche für Aufsehen. 

Frische Produkte und „Tellergemälde“

„Die Nouvelle Cuisine stand für leichteres, fettärmeres Essen“, erinnert sich Groß. „Wichtig war, den möglichst hochwertigen und marktfrischen Grundprodukten ihren natürlichen Geschmack zu lassen“, erklärt der gelernte Koch, der 35 Jahre für den Michelin Reiseverlag als Restauranttester arbeitete. „Hierzu gehörten verkürzte Garzeiten, der dezente Einsatz von Kräutern und leichtere Saucen, die nicht mehr über das Fleisch oder den Fisch gegossen, sondern daneben angerichtet wurden.“ Dies ist auch der schöneren Optik geschuldet, die ebenfalls zum Markenzeichen der Nouvelle Cuisine wird. „Es begann die Zeit der Gemälde auf dem Teller“, blickt Groß auf die kulinarisch bewegten 1970er-Jahre zurück. 

Mit der neuen Art zu kochen kommt in den ambitionierten Restaurants das Ende für Mehlschwitzen, warm gehaltene Beilagen und vorgefertigte Saucen. Stattdessen wird „à la minute“ gekocht. Lange Speisekarten treten zugunsten einer kleinen Auswahl an frisch zubereiteten Gerichten zurück. Die Kochtechniken und das wichtigste Grundprinzip der Nouvelle Cuisine gelten in der TopGastronomie bis heute: „Spitzenköche lassen den Produkten ihren Eigengeschmack“, so Michelin Veteran Groß. 

Internationalisierung der Essgewohnheiten

Der MICHELIN-Führer Deutschland schreibt in seiner Ausgabe von 1974 zu den kulinarischen Vorlieben des Landes: „Die deutsche Küche und die deutschen Essgewohnheiten haben … eine merkliche Wandlung erfahren: Bedingt durch arbeitszeitliche Gründe und gesundheitliche Rücksichten (Diät etc.), vollzog sich nach und nach eine Änderung der traditionellen Essgewohnheiten. Zudem förderten der zunehmende, grenzüberschreitende Reiseverkehr, das Kennenlernen unbekannter Gerichte und die Weiterentwicklung der Kühl- und Gefriertechnik eine immer stärkere ,Internationalisierung‘ des Angebots auf deutschen Speisezetteln.“ Mit Blick auf die breite Gastronomie schreibt der MICHELINFührer 1974 freilich auch, dass „Kasseler Rippchen, Gulasch, Wiener Schnitzel, Deutsches Beefsteak und Eisbein mit Sauerkraut auf kaum einer Karte fehlen“. Nur wenige Ausgaben später findet sich dieser Exkurs über die deutsche Küche nicht mehr. 

Die ersten 2- und 3-Sterne-Häuser in Deutschland

Deutliches Zeichen für den Aufwärtstrend in der deutschen Gastronomie: 1974 steigen erstmals sieben Häuser in die 2-SterneKlasse auf, darunter auch das „Tantris“ mit Chefkoch Witzigmann. Dieser macht sich 1978 in München mit seinem legendären Restaurant „Aubergine“ selbstständig. Bereits in der 1980erAusgabe des MICHELIN-Führers erkocht er sich als erster Küchenchef Deutschlands und als dritter Koch außerhalb Frankreichs die Spitzenwertung von drei Michelin Sternen. Die strikte Orientierung. Witzigmanns an frischen Produkten belegt auch der Eintrag im MICHELIN-Führer 1980. Statt einer empfohlenen Spezialität steht hier kurz und knapp „saisonbedingt“.

Talentschmieden für Spitzenköche

Das Restaurant „Aubergine“ wird in den 1980er-Jahren der führende Ausbildungsbetrieb für spätere Spitzenköche in Deutschland. Witzigmann-Schüler sind unter anderem die SterneKöche Harald Wohlfahrt, Hans Haas, Alfons Schuhbeck, Johann Lafer und Claus-Peter Lumpp. „Diese wiederum hatten zum Teil eigene Schüler, aus denen ebenfalls sehr gute Köche geworden sind“, so Groß. „Insofern kann man das ‚Aubergine‘ als Keimzelle für den zweiten gastronomischen Schub in Deutschland sehen, der in den Neunzigerjahren einsetzte“, erläutert der frühere Michelin Inspektor, der diese Zeit hautnah miterlebt hat. Als zweite „Talentschmiede“ für Top-Gastronomen und Spitzenköche in Deutschland öffnen zeitgleich mit dem „Tantris“ die „Schweizer Stuben“ in Wertheim am Main. Hier arbeiten seit den frühen 1970er-Jahren unter anderem die Brüder Jörg und Dieter Müller als Küchenchefs. Weitere Parallele zu dem Münchner TopRestaurant: Beide Häuser werden von Unternehmern gegründet, die auf Auslandsreisen ihre Liebe für die Haute Cuisine entdeckt haben. 

Die 1980er-Jahre:  Top-Gastronomie im stetigen Aufwind

Bereits 1982 können sich drei Restaurants in Deutschland mit drei Sternen schmücken – eine Entwicklung, an der auch der MICHELIN-Führer Anteil hat. Dazu Chefredakteur Ralf Flinkenflügel: „Viele Köche erzählen uns, dass speziell die Sterne ein großer Ansporn für exzellente Leistungen sind. So gesehen leistet der MICHELIN-Führer sicher auch einen Beitrag zur Entwicklung der Restaurantlandschaft in Deutschland.“ 1988 steigt die Zahl der 3Sterne-Adressen vorübergehend sogar auf vier Häuser.

Zahlreiche Betriebe, die in den 1970er- und 1980er-Jahren in die Sterne-Klasse aufrücken, führen das Prädikat noch heute. Für Groß ein Zeichen für Leistungsfähigkeit und Innovationskraft: „Das kulinarische Niveau ist in den vergangenen Jahrzehnten ständig gestiegen. Wenn ein Restaurant über lange Zeit einen Stern führt, dann ist es auch in der Lage, sich an die stetig wachsenden Ansprüche anzupassen. Stillstand ist in der Spitzengastronomie gleichbedeutend mit Rückschritt.“ 

 

Steigendes Interesse bei Lesern und Medien

Parallel zum Niveau der Gastronomie steigen die Auflagen des MICHELIN-Führers. „Ende der Achtziger hatten wir uns endgültig als führender Hotel- und Gastronomieführer in Deutschland etabliert“, blickt Ex-Tester Groß zurück. Beleg für das wachsende Renommee auch rechts des Rheines: „Die Berichterstattung der Presse über die Verleihung und Streichung von Sternen nahm in dieser Zeit deutlich zu.“ Kurioser Nebeneffekt des Ruhms: „Viele Gastronomen suchten jetzt systematisch ihre Parkplätze nach Fahrzeugen mit Karlsruher Kennzeichen und MICHELIN Reifen ab. Besonders verdächtig waren allein reisende Herren“, schmunzelt Groß. Was Restaurantchefs und Küchenchefs bis heute oft nicht wissen: „Kaum ein Inspektor hat das Nummernschild ‚KA‘ an seinem Wagen.“

Michelin Inspektoren in internationaler Mission

Die deutschen Michelin Inspektoren sind bereits damals nicht nur in der Heimat unterwegs, sondern helfen ihren europäischen Kollegen auf Anfrage aus. Besonders eng ist die Zusammenarbeit aufgrund der räumlichen Nähe im Elsass. Der internationale Austausch gehört heute zu den Grundprinzipien beim MICHELINFührer: „Ausgewählte Inspektoren verbringen einmal im Jahr eine Woche in Frankreich, Italien, Spanien und den Benelux-Ländern und testen Restaurants. Ebenso kommen Engländer, Spanier und Belgier nach Deutschland, um hier die Sterne-Gastronomie kennenzulernen und zu bewerten“, berichtet Chefredakteur Flinkenflügel. Alle Restaurant-Inspektoren sind außerdem für den MICHELIN-Führer „Main Cities of Europe“ tätig, der die wichtigsten europäischen Metropolen abdeckt. Hintergrund: In den Ländern, die nicht von einem eigenen Guide abgedeckt werden, unterhält Michelin keine Testerteams. Deshalb testen Inspektoren aus dem Ausland in Metropolen wie Kopenhagen, Stockholm, Budapest und Prag die Gastronomie. 

Die Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg gewährleistet einen einheitlichen Standard im Erscheinungsgebiet des MICHELINFührers. Für alle Länder, die der Hotel- und Gastronomieführer abdeckt, gelten dieselben strengen Bewertungskriterien. Die Leser können deshalb davon ausgehen, dass ein 1-Stern-Restaurant in München oder Berlin das gleiche Qualitätsniveau bietet wie ein Haus derselben Kategorie in London, Rom oder Madrid. 

Langsamer Abschied von Heizzulage und Etagendusche

Parallel zum Niveau in der Gastronomie steigen in den 1970er- und 1980er-Jahren der Komfort in der Hotellerie und die Ansprüche der Reisenden. Das belegen die Piktogramme des MICHELIN-Führers. So findet sich 1980 der Vermerk, dass für die Heizung in Deutschland meist ein besonderer Zuschlag erhoben wird, nicht mehr in der Einleitung. Auch die Symbole für „Etagenbad“, „Etagendusche“ und „Nur fließend kaltes Wasser“ verschwinden.   Allerdings bleibt der Hinweis, dass dies in einfacheren Häusern noch immer üblich ist. 

Erstmals erscheinen dafür Zeichen für „Fernsehen im Zimmer“, „Sauna“ und „Konferenzraum“. Vom allmählichen Aufkommen des „Plastikgeldes“ als Zahlungsmittel zeugen Anfang der 1980er-Jahre vereinzelte Kreditkartensymbole im MICHELIN-Führer. Auch den behindertengerechten Ausbau mancher Häuser hebt der praktische Reisebegleiter jetzt hervor.  Mit der Wiedervereinigung Deutschlands 1990 beginnt ein neues, spannendes Kapitel.

1990–2010: Immer auf der Höhe der Zeit

Der Hotel- und Restaurantführer erscheint im Internet  und mit neuen Symbolen für preiswerte Häuser.

In den 1990er-Jahren und im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts baut die deutsche Gastronomie ihre Stellung in Europa weiter aus. 2009 gibt es in Deutschland mit insgesamt neun 3-Sterne-Häusern nach Frankreich europaweit die meisten Adressen der höchsten kulinarischen Wertung. Hinzu kommen 18 2-Sterne-Häuser und 189 1-Stern-Betriebe. Auch der MICHELIN-Führer untermauert seine Rolle als Vorreiter unter den Hotel- und Gastronomieführern: Mit dem „Bib Gourmand“ führt Michelin 1997 eine neue Empfehlung für eine gute, häufig regional geprägte regionale Küche ein, die mit einem besonders günstigen Preis-Leistungs-Verhältnis kulinarische Genüsse auch für kleinere Budgets ermöglicht. Für das Hotelgewerbe verleiht das Unternehmen seit 2003 zusätzlich den „Bib Hotel“, der gute Übernachtungsmöglichkeiten zu moderaten Preisen kennzeichnet. Zudem lässt sich der MICHELIN-Führer seit 2001 auch im Internet aufrufen. 

Entdeckungsreisen in die neuen Bundesländer

Dabei beginnen die 1990er-Jahre für die altgedienten Michelin Inspektoren mit einem Déjà-vu-Erlebnis. Noch vor der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 gehen die Gastronomietester auf kulinarische Entdeckungsreise in den neuen Bundesländern – und stoßen dabei auf Gerichte, die, deftig und üppig portioniert, schon einmal in der Bundesrepublik in den 1960erJahren modern waren. Alfred Groß (Name geändert), der 35 Jahre lang als Michelin Inspektor tätig war, erinnert sich gut an „automordende Straßen voller Schlaglöcher und abenteuerliche Übernachtungen in Arbeiterwohnheimen oder Mutter-Kind-Unterkünften“. 

Anfangs konzentrieren sich die Michelin Tester auf touristisch interessante Gebiete wie Rügen, Usedom und das Erzgebirge. Hinzu kommen Großstädte wie das frühere Ostberlin, Leipzig und Dresden. In der sächsischen Hauptstadt küren sie 1995 mit dem Restaurant „Erholung“ auch das erste 1-Stern-Haus in den neuen Bundesländern. In der Deutschland-Ausgabe 2009 folgt mit dem „Falco“ in Leipzig der erste 2-Sterne-Betrieb. Trotz erfreulicher Aufwärtstendenzen im Osten bleibt es bei der kulinarischen Teilung Deutschlands. „Es gibt in der deutschen Küche traditionell ein SüdNord-Gefälle und ein West-Ost-Gefälle“, präzisiert Groß. „Eine Ausnahme bilden lediglich die Großstädte.“ Früher wie heute findet sich die größte Dichte an Sterne-Restaurants und Bib-GourmandAdressen in Baden-Württemberg.

Start ins digitale Zeitalter

Auch in anderer Hinsicht sind die frühen 1990er-Jahre für die Michelin Inspektoren spannend: Die professionellen Restaurantprüfer testen auf ihren Fahrten durch Deutschland in einem Pilotprojekt die ersten GPS-Navigationssysteme. „Mit dem flimmernden Bildschirm im Auto fielen wir natürlich auf und wurden von neugierigen Passanten manchmal darauf angesprochen. Das machte es nicht immer leicht, anonym zu bleiben“, erinnert sich Groß. Zugleich stellen die Inspektoren die Koordinaten von Sehenswürdigkeiten, Restaurants und Hotels zusammen. Diese dienen als Grundlage für den InternetRoutenplaner www.ViaMichelin.com, der 2001 ins Netz geht. 

Heute      deckt      ViaMichelin     45     Länder,      über      neun Millionen Straßenkilometer sowie 55.000 in den MICHELIN-Führern gelistete Hotels und Restaurants ab. Die Informationen sind auf Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch und Spanisch verfügbar. Der Nutzer kann seine Wunschadresse nach mehreren Kriterien finden. Zur Wahl stehen unter anderem Preis, Parkplatz, Schwimmbad, Internet-Zugang oder Einrichtungen für Behinderte. Die Daten lassen sich weiterversenden und in ein Navigationssystem übertragen. Mit mehr als zehn Millionen Besuchern pro Jahr und rund 30.000 Besuchern pro Tag erfreut sich die Rubrik „MICHELINFührer“ außerordentlich großer Beliebtheit.

Kulinarisches Hoch durch Witzigmanns „Enkel“

Die Jahre zwischen 1995 und 2010 sind auch in kulinarischer Hinsicht äußerst fruchtbar. Dazu Ralf Flinkenflügel, der Chefredakteur des MICHELIN-Führers Deutschland: „In den vergangenen 15 Jahren gab es in der deutschen Top-Gastronomie nochmals einen deutlichen Schub nach vorne.“ Ein wichtiger Grund: „Viele Schüler von Starkochs wie Eckart Witzigmann und Heinz Winkler eröffneten ihre eigenen Restaurants. Dort bildeten sie ihrerseits ausgezeichnete Schüler aus, die sich ebenfalls später selbstständig machten.“ Die Alternative: Um das wirtschaftliche Risiko eines Einstiegs in die Top-Gastronomie zu verringern, begeben sich zahlreiche junge Küchenchefs unter das Dach eines großen Hotels – ein Arrangement, von dem beide Seiten profitieren. Zusätzlich zur Nouvelle Cuisine französischer Prägung zeichnet sich seit den 1990er-Jahren die Tendenz zu einer verfeinerten Regionalküche mit hochwertigen heimischen Produkten ab.

Europaweit die Nummer zwei bei 3-Sterne-Adressen

Listet der MICHELIN-Führer Deutschland 1990 noch drei Häuser mit der kulinarischen Maximalauszeichnung von drei Sternen auf, so bewerten die Tester 2008 und 2009 jeweils neun Adressen mit der Bestnote. Damit weist Deutschland nach Frankreich europaweit die meisten Adressen der 3-Sterne-Klasse auf. Neben dem Angebot an gehobenen kulinarischen Genüssen steigt auch die Nachfrage, „in jüngster Zeit besonders erkennbar an der wachsenden Zahl von Kochshows und Kochsendungen im Fernsehen“, so Flinkenflügel. Der frühere Michelin Inspektor Groß ist überzeugt, dass sich der Aufwärtstrend in der deutschen Top-Gastronomie trotz der aktuell schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fortsetzen wird: „Es gibt viele gut ausgebildete und ehrgeizige Jungköche, die zeigen wollen, was sie können, und es gibt das Publikum dafür.“ 

Als Information für kulinarisch interessierte Leser führt der MICHELIN-Führer Deutschland 2006 die neue Kategorie der „Hoffnungsträger“ ein. Hierbei handelt es sich um Restaurants, die bei weiterhin konstant hoher Küchenleistung darauf hoffen können, in Zukunft mit einem Michelin Stern ausgezeichnet zu werden oder in die nächsthöhere Sterne-Kategorie aufzurücken. Der MICHELIN-Führer hebt diese Adressen ab 2007 auch im Hauptteil durch einen rot gedruckten Namen hervor. 

Auch dem Trend zum gehobenen Weingenuss trägt der Hotel- und Gastronomieratgeber Rechnung: 2004 führt Michelin ein eigenes Symbol für eine besonders attraktive Weinkarte ein. Dazu der frühere Hotel- und Restauranttester Groß: „Parallel zum Niveau der Küche hat sich seit den Sechzigerjahren das Niveau der Weine in der Gastronomie deutlich gesteigert. Dies betrifft nicht nur die Spitzenadressen mit Stern, sondern auch einfachere Häuser.“ 

Die „Bibs“: beliebte Empfehlungen für preiswerte Adressen

Zwar ist der MICHELIN-Führer für sein Sterne-System berühmt, das auf Retaurants mit einer überdurchschnittlich guten Küche hinweist. Der Erfolg der Reihe basiert jedoch auch auf der großen Auswahl von Restaurants und Hotels zu moderaten Preisen. Für Häuser, die auf den kleineren Geldbeutel zugeschnitten sind, führt Michelin in Deutschland 1997 die Auszeichnung Bib Gourmand und im Jahr 2003 die Empfehlung Bib Hotel ein. Namensgeber ist das freundliche Michelin Männchen „Bibendum“ oder kurz „Bib“. Beide „Bibs“ kommen bei den Lesern des MICHELIN-Führers sehr gut an.

Der Bib Gourmand kennzeichnet Restaurants mit einem besonders guten Preis-Leistungs-Verhältnis: Das Limit in Deutschland beträgt 35 Euro für ein Drei-Gänge-Menü. In der Regel handelt es sich hierbei um kleine, sympathische Häuser, die eine regional geprägte Küche bieten und familiär betrieben werden. Es finden sich darunter aber auch moderne Bistros, Restaurants mit internationaler Küche und so manches Zweitrestaurant eines bekannten Spitzenkochs. Dazu Groß: „Der Trend bei vielen TopGastronomen geht zum einfacheren Zweitrestaurant, das bezahlbare und authentische Küche in guter Qualität bietet.“ 

Die Häuser mit Bib Hotel finden sich nicht in den gängigen „Bestenlisten“ der Top-Hotels. Es handelt sich stattdessen um Adressen mit gemäßigten Preisen, die sich für eine Übernachtung auf einer Geschäftsreise oder auch für einen längeren Urlaubsaufenthalt eignen. Bei der Vergabe des Bib Hotel achten die Michelin Inspektoren nicht nur auf den zeitgemäßen Komfort der Zimmer, sondern auch auf die Freundlichkeit des Personals und ein gutes Frühstücksangebot.

Immer aktuell: die Piktogramme

Um dem gewandelten Reise- und Freizeitverhalten seiner Leser, aber auch dem technischen Fortschritt Rechnung zu tragen, aktualisiert Michelin auch in den zwanzig Jahren zwischen 1990 und 2010 permanent die Piktogramme des Hotel- und Gastronomieführers. Er präsentiert sich also stets auf der Höhe der Zeit.   Darf     in         den      1990er-Jahren beispielsweise            für Geschäftsreisende der Hinweis auf einen Modem- und Faxanschluss im Zimmer nicht fehlen, so sind mittlerweile Symbole für Internetzugang mit DSL oder W-LAN an dessen Stelle getreten. 

Das Piktogramm „Fernsehen im Zimmer“ verschwindet mit dem Start ins 21. Jahrhundert ganz aus dem MICHELIN-Führer. „Früher war der Fernseher ein absolutes Komfortmerkmal, heute gehört er selbst in einfachen Gasthöfen zum Standard“, kommentiert Michelin Veteran Groß diese Entwicklung. „Das eigene TV-Gerät, wie früher, müsste ich heute jedenfalls nicht mehr auf Dienstreise mitnehmen“, ergänzt Groß.

Wellness-Symbol und Kurztexte

Der Trend zu Wellness-Urlauben und –Wochenenden findet im MICHELIN-Führer ebenfalls seinen Niederschlag: Seit 2003 überprüfen die Inspektoren alle Häuser auch hinsichtlich ihres Wellness-Angebots. Ein entsprechendes Piktogramm weist auf besonders angenehme Einrichtungen hin. Seit 2006 ergänzt eine Liste der ausgezeichneten Wellness-Hotels die Piktogramme. Die Ausgabe 2006 erscheint darüber hinaus mit modernisierten Symbolen, die es den Lesern erlauben, sich noch schneller zurechtzufinden. Ebenfalls 2003 erscheint die Deutschland-Ausgabe erstmals mit informativen Zwei- bis Vierzeilern zu jedem empfohlenen Hotel und Restaurant. Sie stellen kurz und knapp Küchenstil, Ambiente und Service des Hauses vor. „Die Inspektoren müssen allerdings nicht selbst texten, hierfür gibt es spezielle Redakteure. Grundlage sind die Berichte und Auskünfte der Inspektoren“, so Redaktionschef Flinkenflügel. 

Der MICHELIN-Führer für das iPhone®

Weiteres Novum: Seit Mai 2009 können Nutzer eines Apple iPhone® die Restaurantempfehlungen aus dem MICHELIN-Führer „Deutschland“ und anderen europäischen Ländern, auf ihr Mobiltelefon laden. Neben Adresse, Telefonnummer und Öffnungszeiten umfassen die Listen die Kurzkommentare zu jedem Haus aus dem MICHELIN-Führer. Auszeichnungen wie Michelin Sterne und Bib Gourmand komplettieren die Verzeichnisse.  Die iPhone®-Applikationen ermöglichen es den Nutzern, in Sekundenschnelle ein Restaurant mit guter Küche in ihrer Nähe zu finden und dort einen Platz zu reservieren. Weiterer Service: Die Kunden können Kommentare zu den einzelnen Häusern abgeben, die für andere Kunden sowie Nutzer der Internetseite www.ViaMichelin.com einsehbar sind. Voraussetzung ist eine Registrierung beim Online-Service „Mein ViaMichelin“.

Mit Laptop und Leidenschaft

Auch in die tägliche Arbeit der Michelin Inspektoren halten seit den 1990er-Jahren Laptop, E-Mail und Mobiltelefon Einzug. „Früher wurde alles auf Papier notiert und gleich am nächsten Morgen per Post nach Karlsruhe zur Zentrale geschickt. Heute ist das Arbeiten durch die Technik viel einfacher geworden“, so Groß, der in 35 Jahren als Inspektor beide Arbeitsweisen kennengelernt hat. Unabhängig davon bleiben ein gutes Geschmacksgedächtnis und die Fähigkeit, die Einschätzung eines Hauses und seiner Küchenleistung präzise zusammenzufassen, die entscheidenden Faktoren für die Arbeit der professionellen Hotel- und Restauranttester von Michelin. Groß: „Es ist ein Beruf, der viel Herzblut erfordert.“ Der Inspektor im Ruhestand hat über 400 Kochbücher zu Hause und steht jetzt, wo er Zeit dafür hat, auch häufig selbst am Herd. „Auf Bib Gourmand Niveau“ schätzt er seine Kochkünste ein. Auch seine Lust auf Restaurantbesuche hat sich der gelernte Koch bewahrt. „Ich lasse dann aber den Inspektor in mir zu Hause und erfreue mich einfach am Essen und am Zusammensein mit meinen Tischgenossen.“ 

MICHELIN-Führer Deutschland: 24-mal drei Sterne

Insgesamt 24 Restaurants zeichnete der MICHELIN-Führer Deutschland seit 1980 mit der kulinarischen Höchstwertung von drei Sternen aus. Drei Köche, Heinz Winkler, Juan Amador und Kevin Fehling erreichten mit zwei Restaurants bzw. nach einem Umzug ihres Restaurants erneut die Höchstbewertung. Drei Restaurants erhielten mit verschiedenen Küchenchefs die Höchstnote.

Haus

Ort

Küchenchef

3 Sterne ab Guide

Aubergine

München

Eckart Witzigmann

1980 – 1994

Tantris

München

Heinz Winkler

1982 – 1991

Goldener Pflug

Köln

Herbert Schönberner

1982 – 1988

Im Schiffchen

Düsseldorf

Jean-Claude Bourgueil

1988 – 2006

Schwarzwaldstube

Baiersbronn

Harald Wohlfahrt bis 2017, ab Guide 2018 Torsten Michel

1993 - 2019 und seit 2021

Restaurant Heinz Winkler

Aschau im Chiemgau

Heinz Winkler

1994 – 1995 und 2001 – 2008 

Restaurant Dieter Müller

Bergisch-Gladbach

Dieter Müller bis 2007, dann Nils Henkel

1998-2012

Waldhotel Sonnora

Wittlich/Dreis

Helmut Thieltges bis 2017, ab Guide 2018 Clemens Rambichler

seit 2000

Vendôme

Bergisch-Gladbach

Joachim Wissler

2005-2022

Victor's Fine Dining by Christian Bau

Perl

Christian Bau

seit 2006

Amador

Langen

Juan Amador

2008-2011

Restaurant Bareiss

Baiersbronn

Claus-Peter Lumpp

seit 2008

GästeHaus

Saarbrücken

Klaus Erfort

2008-2020

Aqua

Wolfsburg

Sven Elverfeld

seit 2009

Amador

Mannheim

Juan Amador

2011-2015

La Vie

Osnabrück

Thomas Bühner

2012-2018

La belle Epoque

Lübeck-Travemünde

Kevin Fehling

2013-2015

Überfahrt

Rottach-Egern

Christian Jürgens

2014-2023

The Table

Hamburg

Kevin Fehling

seit 2016

Atelier

München

Jan Hartwig (bis September 2021), Anton Geschwendtner (seit September 2021)

2018-2022

RutzBerlinMarco Müllerseit 2020
SchanzPiesportThomas Schanzseit 2022
JANMünchenJan Hartwigseit 2023
ES:SENZGrassauEdip Siglseit 2024
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